Vorwort zum
Projekt »Exil«
(tschechisch)
Die Flucht

In der ersten Hälfte des Jahres 1979 herrschte unter den Staaten des Warschauer Pakts eine kleine Krise. Unter anderem verlangte Rumänien von den Tschechen und Slowaken, ihr Benzin beim Durchqueren von Ceauşescus Land in harter Währung zu bezahlen. Die kommunistische Regierung Husáks reagierte ungewöhnlich schnell und erlaubte ihren Bürgern bei der Urlaubsfahrt in das bulgarische Sommerparadies den Transit durch das halb kapitalistische, halb sozialistische Jugoslawien. Innerhalb eines Monats verließ ca. die Hälfte meiner damaligen Freunde die Tschechoslowakei.
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Pavel M. war schon damals mein bester Freund, und als er mich Ende August 79 fragte, ob ich mit ihm flüchten würde, war ich ohne Weiteres einverstanden. Pavel ist bis heute mein bester Freund geblieben.
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Mit dem letzten, halb leeren, Zug der Saison, der tschechische und slowakische Arbeiter ans Schwarze Meer beförderte, fuhren wir bis Budapest. In der ungarischen Hauptstadt stiegen wir in den Zug nach Szeged um. Von Szeged bis zur jugoslawischen Grenze sind es nur ein paar Kilometer. Wir wollten die Grenze ohne Aufmerksamkeit zu erregen, am besten in einem soliden Auto per Anhalter, passieren.
An der Ausfallstraße nach Jugoslawien standen wir nicht lange. Bald hielt ein Trabant mit einem gut gelaunten Ungarn an. Er lieferte uns - ohne jede Verständigungsmöglichkeit und wahrscheinlich in bester Absicht - direkt in die offenen Arme der ungarischen Zöllner am Grenzübergang Röszke. Igen...
Ich und Pavel waren kurz vor dem Kollaps.
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Angespannt zeigten wir unsere Pässe.
„Erlaubnis!?“, fragte der ungarische Zöllner.
„Keine Erlaubnis“, sagte ich wahrheitsgemäß. Alles Weitere wollte ich zusammenlügen. Der Zöllner machte eine Handbewegung und schickte uns weiter Richtung Jugo.
Der jugoslawische Zöllner wollte keine Erlaubnis sehen, dafür aber Geld. Die Summe, mit der uns die tschechische Staatsbank für die Reise ausgestattet hatte, reichte ihm nicht mal für den Transit. Wir versuchten ihm zu erklären, dass uns die Bank nicht mehr gab.
„Wenn die Bank nichts gab, dann lasse ich euch nicht rein...“, beharrte der Zöllner auf seinem Standpunkt.
Ohne zu zögern zog ich meine Pentacon Six, eine mittelformatige Kamera mit DDR-Herkunft, aus dem Rucksack, öffnete die Rückwand und zog vor dem erstaunten Staatsdiener aus dem Rollfilm Dollars, deutsche Mark, schwedische und dänische Kronen, schweizerische und französische Franken heraus. Harte Währungen, die wir kurz vor unserer Flucht in Prag auf dem Schwarzmarkt gekauft hatten und die ich sorgfältig in den Rollfilm eingewickelt hatte.
Ich war noch gar nicht fertig, als uns der Jugo-Zöllner mit einem breiten Grinsen in die kleine Freiheit des halbkapitalistischen Jugoslawien entließ.
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Wir standen kurz hinter der Grenze und versuchten, ein Fahrzeug Richtung Belgrad anzuhalten. Die Zeit hatte für uns an Bedeutung verloren. Wir waren auf dem halben Weg in die Realität, von der wir nicht wussten, wie sie sein würde. Sie existierte nur in unserer Vorstellung und bei jedem von uns anders. Die einzige Sicherheit, die wir hatten, war unsere Intuition, dass wir das Richtige tun, und das Gefühl, unser Schicksal endlich in den eigenen Händen zu halten, auch wenn wir es gerade durch den Balkan schleppten.
Es war ein Altweibersommer, unsere kleine Freiheit war sonnenbeschienen, und wir hatten überhaupt keine Eile. Deutschland war unser Ziel und wir waren entschlossen, es zu erreichen, auch wenn es über die grüne Grenze gehen musste...
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Schließlich hielt ein Auto an. Darin saßen zwei Männer in Uniform. Sie nahmen uns ein Stück oder ein Stückchen mit, egal, nur weg von hier. Unterwegs luden uns die Uniformierten zum Essen und Trinken ein und als wir die Kaschemme verließen, bat ich sie um ein gemeinsames Foto zur Erinnerung. Wir legten uns gegenseitig die Arme um die Schultern, sahen wie alte Freunde und sehr zufrieden aus.
Später, als wir schon in München waren, schickte ich das Foto nach Prag.
„Die jugoslawischen Zöllner begrüßen die Flüchtlinge,“ schrieb ich auf die Rückseite.
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Am Freitag, früh am Nachmittag, kamen wir in Belgrad an. Schnell fanden wir die Deutsche Botschaft. Pavel bat bei dem Pförtner resolut um Asyl. Der Pförtner grinste und schickte uns zu der Konsulatsabteilung in den Hof.
Dort bekamen wir ein Transit-Visum für einen Tag und eilten sofort zur Österreichischen Botschaft, die unweit der Deutschen war.
Die schwere Tür öffnete sich nur einen Spalt breit. Eine rundliche Angestellte taxierte uns mit strengem Blick.
„Es ist Freitagnachmittag und alle sind schon weg...“, sagte sie.
Ich schob mein Fuß in den Türspalt und zeigte ihr unser deutsches Visum. Zu unserer Überraschung ging die Tür auf und wir wurden eingelassen. Das österreichische Visum hatte nur 38 Stunden Gültigkeit ab dem Moment, als wir es bekamen. Das war nicht viel, aber zur Erfüllung von Träumen reicht manchmal weniger. Wir brachen auf, in Richtung der untergehenden Sonne.
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In Prag haben wir beide in einem Studententheater gearbeitet. Das Theater hieß DISK und diente den Studenten der Theaterfakultät dazu, Praxis zu sammeln. Dort lernten wir auch den slowenischen Bühnenbildner Zoran Krizaj kennen. Zoran trafen wir zuletzt um Mitternacht auf dem Prager Hauptbahnhof, kurz bevor wir in unseren bulgarischen Express einstiegen.
“Jungs, wo fahrt ihr hin?“ fragte Zoran.
„Nach Bulgarien, ein bisschen entspannen“ brummten wir leise unisono.
„Das ist schön, dann genießt es, ich fahre für ein paar Tage nach Hause“ entgegnete Zoran lachend.
Uns entging nicht, dass er nach Maribor fuhr.
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Wir standen in Belgrad und versuchten ein Auto Richtung Zagreb anzuhalten, dabei zogen wir ständig unsere Pässe mit den neuen Visa heraus und studierten sie immer wieder.
Vielleicht lag es an dem Freitag und seiner spätsommerlich trägen Luft, dass uns keiner mitnahm. Wir standen lange genug da, aber Richtung Zagreb wollte keiner fahren und schon gar nicht mit uns. Als die Sonne unterging, verwischte sie die Orientierung. Ost und West galt nicht mehr. Wir gingen zum Bahnhof zurück, der überfüllt war. Ich spürte den Balkan und das Hier und Jetzt war für mich die erste Begegnung mit der islamischen Welt. Stumm und erstaunt beobachtete ich die betenden Pilger auf ihren kleinen Teppichen, die gen Mekka gerichtet waren. Die langen merkwürdigen Kleidungstücke, die gegerbten, dunkelbraunen Gesichter. Gierig saugte ich diese neue Welt in mich auf. Der Zug, der uns wieder ins Abendland bringen sollte, fuhr noch nicht. Wir hatten genug Zeit, mit dieser Umgebung voller Düfte und eigenartiger Geräusche eins zu werden.
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Der Nachtexpress erreichte die Stadt Zagreb um zwei Uhr morgens. Schlaftrunken schlurften wir durch den leeren Bahnhof und versuchten uns zu orientieren.
Plötzlich und wie im Traum tauchte vor uns die Gestalt von Zoran Krizaj auf.
Oft habe ich mich später gefragt, wer ihn damals zu uns geschickt hat.
In dem Moment gab es keinen, der uns mehr hätte helfen können. Zoran nahm uns mit nach Maribor, wo er zu Hause war. Eine Reise ohne Erinnerung...
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Bei Zoran konnten wir baden und uns auf den Übergang in das andere System vorbereiten. Bevor wir die Grenze überschritten, rauchten wir mit Pavel die zwei letzten kubanischen LIGEROS Zigaretten. Es war kein symbolischer Akt, es kam einfach so dazu. In Graz kauften wir uns im ersten Kiosk jeder eine Schachtel Gauloises ohne Filter und suchten die Autobahn Richtung Salzburg.
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Per Anhalter fuhren wir von Graz nach Salzburg. Die riesigen, an unseren Fenstern vorbeifliegenden Alpen riefen in mir Furcht hervor. Alles wirkte so neu auf mich. Bis heute ist es mir ein Rätsel, wie wir mit den Leuten sprachen, die uns mitnahmen.
In Salzburg angekommen quartierten wir uns in einer billigen Pension ein. Am Abend gingen wir zu einem Italiener, wo wir Pizza aßen. Wir wollten für das neue Leben entspannen. Bis heute kann ich mich an den Nachtspaziergang durch Salzburg erinnern. Wir waren voller Wünsche, die Pavel bremsen und kanalisieren musste. Später schlief ich mit einem Lächeln im Gesicht ein.
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Am nächsten Morgen brachte uns der Linienbus nach Freilassing, zur Grenze. Die österreichischen Zöllner fischten uns mit geübtem Auge heraus und filzten uns. Durch das Frühstück hatten wir unser Visum um ein paar Stunden überzogen. Die Zöllner machten ein unnötiges Problem daraus. Bis sie uns nach Deutschland ließen, mussten wir noch ein bisschen zittern.
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„Brenne dir diesen Moment in dein Gehirn ein“, sagte mir Pavel mit Pathos in der Stimme, als wir die Brücke über den Fluss Saalach nach Bayern passierten.
Es waren unsere ersten Schritte in Deutschland, frei waren wir schon vorher gewesen. Ich denke, der Beweis unseres Freiheitswillens war die Entscheidung, überall leben zu können.
Es dauerte ein bisschen, bis uns einer mitnahm. In München kamen wir erst am Abend an. Der letzte Fahrer, der uns fuhr, fragte:
„Zum Oktoberfest, oder?“
Wir nickten zufrieden, ohne zu wissen, worum es ging. Es war uns auch egal. Nach genau einer Woche hatten wir ein kleines Ziel erreicht. Es war der 18. September 1979 und außer dem Oktoberfest hatte für uns ein neues Leben begonnen.
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Die erste Nacht in Deutschland verbrachten wir bei Karel Kryl. Schon deshalb hätte ich meine Exil-Galerie gern mit Karel angefangen, aber damals war ich einfach nur Ostblock-verseucht und vom Bolschewik deformiert. Noch meilenweit von meinen späteren fotografischen Vorhaben entfernt.
Karel fing uns in einer Münchner Kneipe ab, in die uns weiß der Geier wer geschickt hatte. Die Kneipe war voll von den tschechischen Träumern, Spinnern und Idioten, aus denen sich das tschechische Exil damals in München zusammensetzte.
Ohne Karel, der die erste Begegnung mit der Emigration wunderbar neutralisieren konnte, hätten wir vielleicht am nächsten Tag über die Rückkehr nachgedacht.
So furchtbar und schlimm waren die ersten Eindrücke im Exil und so wunderbar die erste Begegnung mit dem Barden, Dichter und Bohemien Karel Kryl, der sofort bereit war uns zu helfen, ohne uns zu kennen.
Karel Kryl ist am 3.März 1994 in München gestorben. Ich habe ihn nie fotografiert.
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Das Erlernen der neuen Sprache, die Orientierung im neuen Leben, das ununterbrochene Erledigen von Papierkram, das Warten auf den Ämtern - das Ganze dauerte ca. drei Jahre. In dieser Inkubationszeit triffst du fast ausschließlich deine Landsleute, Mitemigranten. Alle warten auf den Neustart und die alte Sprache wird zur Heimat. Dank dieses bindenden Glieds, der Sprache, war ich drei Jahre lang und fast täglich mit Leuten zusammen, die man normalerweise nie treffen würde. Damals war es für mich die erste bewusste Konfrontation mit der Mentalität meines eigenen Volkes. Die Tschechen sind sehr selbstbewusst, nur habe ich bis heute nicht begriffen, woher dieses Selbstbewusstsein kommt und was es nährt.
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Im Jahr 1981 fing ich an in Köln Fotografie zu studieren, die damals noch „Künstlerische“ hieß. Das Portrait hat mich schon immer fasziniert. Als kleiner Junge blätterte ich gern in den Familienalben meiner Freunde und langweilte sie mit Fragen nach ihren Vorfahren. Dass Fotografie mehr ist als die Bilder in den Alben meiner Freunde, habe ich in der damals avantgardischen Zeitung Světová literatura entdeckt. Noch heute kann ich mich an die damalige Ohnmacht erinnern, als ich dort die Portraits des englischen Fotografen Bill Brand zum ersten Mal sah. Das Verschmelzen der fotografierten Person mit dem Raum und dem Augenblick war für mich neu. Die kontrastreichen schwarz-weißen Fotografien, gedruckt in einem groben Raster auf einem billigen Papier, wirkten wie graphische Blätter auf mich.
So etwas wollte ich auch können.
Es hat dann noch lange gedauert, bis ich für diese klassische Disziplin der Fotografie reif war. Und auch dann kam zuerst die Frage, wen soll ich überhaupt porträtieren?
Alle, die mich interessieren? Darin würde ich mich verlieren. Die Antwort kam mir eines Nachts: alle Helden meiner Pubertät, Schriftsteller, Maler und Musiker; alle, die sich entschieden haben wegzugehen, zu emigrieren. Sie sind jetzt endlich erreichbar für mich. Es genügt, sie anzurufen und sie zu bitten. Ich verließ mich auf ihre Eitelkeit, die sie daran hindern würde, mir abzusagen, und ich rechnete damit, dass meine Jugend bei den älteren Menschen, die ich fotografieren wollte, Neugier weckte.
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Zuerst fotografierte ich meine Freunde. Anhand von ihnen definierte ich mein bildnerisches und kompositorisches Bewusstsein. Erst später habe ich den Mut gefunden, Menschen zu fragen, die ich nicht persönlich kannte...
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Am Anfang hatte ich schon den Ehrgeiz, das ganze Exil zu katalogisieren. Nach und nach und ganz natürlich wurde daraus eine völlig subjektive Angelegenheit. Ich fand keinen Grund, Leute abzulichten, die mich nicht interessierten, nur weil sie Tschechen waren.
Die begleitenden Texte sind eine Kollage aus Auszügen der gemeinsamen Korrespondenz und Eindrücken, die ich meist unmittelbar nach der Sitzung festhalte. Das fotografische Bild, das ich dann später entwickle und vergrößere, ruft bei mir die nötige Erinnerung hervor, die es lohnt aufzuschreiben.

Februar 2013
Josef Šnobl, Köln



✝︎
2021 Josef Šnobl
Kontakt c/o Allmuth Lenz - allmuthlenz@freenet.de

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19.03.1954
03.02.2021